Mario Maturi: Erinnerungen 1943-1945

Am 8. September 1943 schied Italien aus dem Zweiten Weltkrieg aus. Zwischen 600.000 und 700.000 italienische Soldaten gerieten in Folge dessen in deutsche Kriegsgefangenschaft. Viele von ihnen wurden anschließend zur Zwangsarbeit in deutschen Firmen verpflichtet. Auch der in Rom geborene, damals zwanzigjährige Mario Maturi wurde in Berlin als Zwangsarbeiter ausgebeutet. In einem Interview im Heimatmuseum Treptow (unter Mitwirkung von Barbara Zibler und Claudio Cassetti im August 2005 veranstaltet, durchgeführt und in der ersten Fassung bearbeitet) erzählte er von seinen ganz persönlichen Erinnerungen an diese Zeit. Hören Sie selbst, was er über den Alltag eines Zwangsarbeiters zu berichten weiß…

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Erinnerungen 1943-1945

Kroatien 31/07/1943Liebe Eltern,Ich bin gesund, macht Euch keine Sorgen, es geht noch weiter, wenn ich nach Hause komme werde ich Euch viele schöne Dinge erzählen… 

So begannen Ende Juli 1943, mit dem Versprechen und der Hoffnung, „viele schöne Dinge“ zu erzählen, meine tragischen Abenteuer als Kriegsgefangener: die zwei längsten Jahre meines Lebens, Jahre, die ich wegen des Schreckens und der Zerstörung, deren Zeuge ich war, nie vergessen würde.

Ein paar Tage darauf wäre ich 20 geworden, und ich war aufgefordert geworden, in dieser schicksalhaften Zeit abzuleisten. Ich war Soldat, Seemann der italienischen Kriegsmarine. Die politischen und militärischen Ereignisse jenes langen Sommers folgten eines nach dem anderen und wir einfachen Soldaten, von unseren Vorgesetzten verlassen, fragten uns verloren, wo unsere hohen Offiziere waren und gerieten in die Situation, ohne andere Wahl, den deutschen Kommandanten zu gehorchen und zu folgen. Meine Garnison, etwa 450 Männer, wurde von Mestre1 durch Kroatien, Montenegro und Albanien nach Griechenland geführt. In Navarino2 wurde ich den Küstenwache zugeteilt. Kurz nach dem Waffenstillstand vom 8. September3 wussten wir sofort, dass unser Schicksal sich ändern würde; wir waren nun eine Armee von Außenseitern und wir wollten nur nach Hause. Am 14. September aber wurden wir italienischen Soldaten wie Vieh in Güterwagen verladen und eingesperrt in Richtung eines unbekannten Ziels.

Wir reisten Tag und Nacht, ohne die Sonne und Licht zu sehen und erwachten wie aus einem Alptraum in einer noch beunruhigenderen Realität. Wir waren in Österreich angekommen, im Konzentrationslager Buchenwald.4 Wir waren Kriegsgefangene. Wir wurden rasiert und gewaschen, uns wurde eine Erkennungsnummer zuwiesen: ich war der Kriegsgefangene Nr. 124259. Wir hielten uns im österreichischen Durchgangslager5 etwa 15 Tage lang auf.

Es war Ende Oktober als wir in Berlin ankamen. Berlin war kalt und mit Schnee bedeckt. Die Temperaturen in diesem Winter waren eisig. Meine Kameraden und ich wurden in einem Konzentrationslager in der Nähe des Flughafens Tempelhof, vielleicht im Lager in der Lilienstraße6 südlich des Friedhofs interniert. Im Lager grenzte unser Gebiet an jenes der russischen Gefangenen, mit denen wir Zigaretten, Kekse, Kleidung und anderes mehr tauschten. Das Tauschen war verboten und wurde streng bestraft.

Vom Winter 1943 bis zum Frühjahr 1945 wurde Berlin teppichartig bombardiert. Jeden Tag brachen zivile und militärische Gebäude unter den Bomben der englischen Luftwaffe zusammen; kein Tag verging ohne mindestens einen Luftangriff-Alarm. Unter Bewachung gingen wir zu den bombardierten Orten, wo wir versuchten wiederaufzubauen, was in den nächsten Tagen wieder zerstört wurde. Während der Bombenangriffe suchten wir in den U-Bahn-Tunnel Zuflucht.

In der Zeit der Gefangenschaft wurden die handwerklich erfahrenen Arbeiter, darunter auch ich, in der Nähe des Flughafens Tempelhof beim Bau eines Bunkers für das deutsche militärische Kommando eingesetzt. Nach diesem Auftrag ging ich als Maurer in eine Druckerei arbeiten, die systematisch bombardiert wurde. Weil ich fünf Zigarettenschachteln eines zerstörten Tabakladens gestohlen hatte, wurde ich prompt ins Lager Rudesdorf7 verlegt, wo Waffen produziert wurden. Kurz danach wurden wir zivile Internierte; wir arbeiteten immer noch, nun aber nicht mehr unter strenger militärischer Aufsicht wie vorher.

Im Frühjahr 1945, als Berlin von russischen und amerikanischen Truppen umgeben war begannen wir zu verstehen, dass der Krieg bald zu Ende sein würde. Am 13. und 14. Februar zerstörten zwecklose britische und amerikanische Luftangriffe das Stadtzentrum von Dresden und rund 35.000 Menschen starben. Wir wurden von Berlin nach Dresden verlegt, wo wir Zeuge des letzten Aufbäumens und der verrückten Kriegsfurie wurden. Der Krieg war nahe an seinem Ende, verursachte aber unaufhaltsam Opfer über Opfer. Meine Kameraden und ich gruben die verstümmelten Leichen von Männern, Frauen und Kindern aus. Das Entsetzen und der Schrecken waren die vorherrschenden Gefühle in jenen Tagen.

Ich riskierte selbst den Tod während der Bombardierung des Bahnhofs von Dresden im April 1945. In der Unterführung des Bahnhofs suchten wir alle zusammen Schutz: Italienische Gefangene, Polen, Russen, Ukrainer… Ein Knall und eine Luftverschiebung gingen durch den Tunnel, der Tod hatte uns berührt und ging aber vorüber. Ende April, von deutschen Wachen begleitet, verließen wir Dresden in Richtung Prag. Die Situation würde sich umkehren: bald würden wir – Kriegsgefangene – freie Menschen und sie – Soldaten des Dritten Reiches – Gefangene werden.

Am 2. Mai, unmittelbar nach dem Selbstmord von Hitler, marschierten die Sowjettruppen in Berlin ein als wir halbwegs zwischen Dresden und Prag waren. Wir gingen von den Deutschen zu den Russen über, die uns heil nach Prag führten. Wegen eines unverständlichen Fehlers wurden wir dort aber als Gefangene in einem Lager zusammen mit den deutschen Soldaten wieder interniert. Glücklicherweise sprach der sizilianische Feldwebel, mit dem wir die zwei Jahre Haft zusammen verbracht hatten, Französisch und es gelang ihm, den Sowjets unsere Situation als Kriegsgefangene der Deutschen zu erklären. Sie brachten uns zum italienischen Konsulat in Prag und auf offenen Lastwagen, von russischen Soldaten gefahren, begann die Rückfahrt nach Italien.

Anfang August, in Innsbruck angekommen, wurden wir an die Amerikaner übergeben. Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern, wie die amerikanischen Soldaten die Zerstörung von Hiroshima durch die Atombombe feierten. In San Valentino in Campo bei Bozen wurden wir desinfiziert. Sauber und anscheinend gesund, in unserem Land angekommen, dachten wir nur an den Tag, an dem wir unsere Familien wieder umarmen würden. Der Krieg in Europa war offiziell am 8. Mai 1945 beendet. Am 15. August war mit der Kapitulation Japans der Zweite Weltkrieg beendet.

Am Abend des 28. August 1945 kam ich mit einem Zug aus Bologna am Bahnhof Tiburtina an. Ich war in Rom, zu Hause! Nach zwei Jahren umarmte ich meine Eltern wieder, meine lieben Schwestern, meine Brüder, meine Freunde.

Ich hätte so viel erzählt! So viele Dinge… viele Dinge… schreckliche Dinge!

Quelle: Mario Maturi: Erinnerungen, Sammlung Berliner Geschichtswerkstatt, Mai 2004
Edition, Übersetzung und Kommentierung: Julie Savary, März 2013

Weiterführende Links

Quellen

  • Cajani, Luigi: Die italienischen Militär-Internierten im nationalsozialistischen Deutschland, in: Ulrich Herbert (Hrsg.): Europa und der „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, S. 295-317.
  • Hammermann, Gabriele: Lino Monchieri, Pietro Cavedaghi, Leonardo Calossi und Erminio Canova. Erfahrungen italienischer Militärinternierter in Deutschland 1943-1945, in: Gedenkstätten Rundbrief der Stiftung Topographie des Terrors, Nr. 133 10/2006, S. 3-15.
  • Hildesheimer Geschichtswerkstatt e.V.: „Schläge, fast nichts zu Essen und schwere Arbeit“. Italienische Zwangsarbeiter in Hildesheim 1943-1945, Hildesheim 2000.
  • Schreiber, Gerhard: Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943 bis 1945. Verraten, Verachtet, Vergessen, München 1990.
  • Zu ‚Arisierung’, ‚Monte Cassino’ und ‚Kriegsgefangenschaft’ außerdem:
    www.dhm.de/lemo/html/nazi/innenpolitik/arisierung/ [zuletzt aufgerufen am 23.5.2013].
    www.dhm.de/lemo/html/googk2/kriegsverlauf/montecassino/ [zuletzt aufgerufen am 23.5.2013].
    www.dhm.de/lemo/html/wk2/kriegsverlauf/gefangenschaft/ [zuletzt aufgerufen am 24.5.2013].

Anmerkungen

  1. bei Venedig  (hoch)
  2. an der Westküste der Halbinsel Peloponnes, am Ionischen Meer  (hoch)
  3. Der Waffenstillstand von Cassibile (Sizilien) bewirkte eine totale Kapitulation des Königreichs Italien vor den Alliierten. Damit verließ Italien die Achsenmächte und der Bürgerkrieg begann. Italienischen Truppen in und außerhalb Italiens, die sich nicht der Achse oder dem Widerstand anschlossen, bevor die Alliierten sie erreichten, wurden von den Deutschen interniert.  (hoch)
  4. Buchenwald liegt nicht in Österreich sondern bei Weimar, in Thüringen. Entweder handelt es sich um eine falsche geographische Angabe, oder es wird Buchenwald mit einem anderen Lager, in Österreich, verwechselt.  (hoch)
  5. vgl. Anmerkung 4  (hoch)
  6. Es könnte sich dabei eventuell um die Lilienthalstraße in Kreuzberg handeln  (hoch)
  7.  Im Kriegsgefangenenlager Rüdersdorf bei Berlin lebten unter KZ-ähnlichen Bedingungen sowjetische sowie französische und italienische Internierte die für kriegswichtige Produktion Zwangsarbeit leisteten.  (hoch)