1. Mai ’33 auf dem Tempelhofer Feld: Experteninterview

Gegensätze zwischen Nationalsozialisten und Arbeitern, Integration in das NS-System und Rückblicke auf die Zeit nach dem 1. Mai 1933: Fragen an Rüdiger Hachtmann.

Zunächst „internationaler Kampftag der Arbeiterbewegung“ und später „Tag der nationalen Arbeit“ – wie groß war der Widerspruch zwischen den Vorstellungen der Nationalsozialisten und den alten Traditionen der Arbeiterschaft?

Rüdiger Hachtmann: Der Widerspruch war riesig, schlicht gesagt: ein Gegensatz. Die 1. Mai- Demonstrationen der klassischen organisierten Arbeiterbewegung, vielleicht weniger der sozialdemokratischen als vielmehr der kommunistischen, waren Ausdruck von Klassenidentität und klassenkämpferischem Habitus. Das, was die Nazis daraus gemacht haben, war die Auflösung der Arbeiterschaft als sozialer Schicht oder sozialer Klasse unter dem Signum der Volksgemeinschaft. Das ganze Normsystem, welches dahinter stand, war fundamental anders, wobei den Feierlichkeiten die Intention zu Grunde lag, – symbolisch und optisch – die Revolution von 1918/19 zurückzunehmen. Das Selbstverständnis der Nazis war vom Diktum der Volksgemeinschaft geprägt, ihr Normensystem individualistisch und konkurrenzfixiert angelegt. Gleichzeitig war ihr Ideal eine idealisierte Frontgemeinschaft, wie sie angeblich im Ersten Weltkrieg bestanden hatte. Im Grunde genommen haben die Nazis alle diametral anti-aufklärerischen Traditionen in ihrer Bewegung vereinigt und zugespitzt: Sie waren gegen die Judenemanzipation, gegen Frauenemanzipation, und gegen soziale Gleichheit und Freiheit, dafür extrem rassistisch und sozialdarwinistisch – und standen damit im kompletten Gegensatz zu den Traditionen der organisierten Arbeiterbewegung, deren Wertvorstellungen auf Kollektivität und Solidarität zielten.

Von dieser grundsätzlichen Diskrepanz ausgehend: Wie viel Sympathie musste 1933 unter den deutschen Arbeitern für den Nationalsozialismus erst noch gewonnen werden?

RH: Es musste eigentlich noch vollständig Sympathie gewonnen werden. Wichtigster Indikator hierfür ist die Verankerung der sogenannten nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) innerhalb der Arbeitnehmerschaft und die Ergebnisse zu den Betriebsratswahlen bis April 1933. Bis auf wenige Ausnahmen blieb die NSBO eine Splitterorganisation und erhielt nur wenige Stimmen von Arbeitern – während sie im Angestelltenbereich viel stärker war. Untersuchungen zeigen, dass die NSBO insbesondere bei vielen Amtsgerichten, in Verwaltungen oder auch den Arbeitsämtern stark gewesen ist.

Berlin, Tempelhofer Feld (Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2008-0008 / CC-BY-SA, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_146-2008-0008,_Berlin,_Tempelhofer_Feld.jpg)

Berlin, Tempelhofer Feld, 1. Mai 1934 (Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2008-0008 / CC-BY-SA, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_146-2008-0008,_Berlin,_Tempelhofer_Feld.jpg)

Wenn die NSBO-Verankerung in der Arbeiterschaft so gering war, warum waren dann trotzdem so viele – man sagt, es waren 1 bis 1,5 Millionen – auf dem Tempelhofer Feld?

RH: Weil sie dazu verpflichtet wurden; wobei die Zahlen selbst stark umstritten sind. Das Problem ist, dass dieser 1. Mai nicht nur Feiertag war, sondern an selbigem Tag auch die Löhne ausgezahlt wurden. Diejenigen, die an der Demonstration und den Kundgebungen nicht teilgenommen haben, haben keinen Lohn bekommen. Zudem muss man sich gleichzeitig klar machen: Die Massenerwerbslosigkeit lag damals offiziell bei sechs Millionen, inklusive der unsichtbaren Arbeitslosen bei deutlich über sieben Millionen Menschen, bei einer generell sehr viel niedrigeren Erwerbsquote als wir das heute haben. Viele hatten schlicht Angst, entlassen bzw. Restriktionen ausgesetzt zu werden, wenn sie den 1. Mai 1933 „schwänzten“. In den Betrieben gab es zudem politischen Druck. Man darf nicht vergessen, dass der Terror massiv war; in Berlin noch extensiver als anderswo. Die SA hat Rachefeldzüge, vor allem gegen Kommunisten, aber auch gegen Sozialdemokraten, durchgeführt. Das hatte eine enorm einschüchternde Wirkung. Hinzu kommt, dass die Organisationen der Arbeiterbewegung faktisch nicht mehr existiert haben und damit auch die Kommunikationszusammenhänge zerrissen waren.

Terror als einer der entscheidenden Faktoren – worin sahen die Nationalsozialisten aber den Sinn einer solchen Propaganda-Inszenierung wie auf dem Tempelhofer Feld?

RH: Repression allein reicht nicht aus, um über einen längeren Zeitraum ein neues Regime zu etablieren. Es braucht Anreizsysteme, Integration, positive Identifikationspunkte. Hitler war sich des suggestiven und psychologisch vergemeinschaftenden Charakters solcher Massenkundgebungen bewusst. Die Inszenierung auf dem Tempelhofer Feld hatte damit eine Doppelfunktion: Sie schüchterte zum einen ein, das heißt sie symbolisierte die Macht und die Größe der NS-Bewegung. Zum anderen kam der integrierend wirkende Mechanismus zum Tragen, sich plötzlich innerhalb der Massen selbst stark zu fühlen. Dadurch gewannen vermutlich auch die neuen NS-Ideen an Attraktivität, insbesondere der Radikalnationalismus der Nazis.

Welche Bedeutung kann somit dem 1. Mai 1933 insgesamt sowohl für die Arbeiterbewegung als auch für NS-Anhänger und Bürgerliche rückblickend zugesprochen werden?

RH: Für die Arbeiterbewegung und Arbeitnehmerschaft war es ein Tag, der total demoralisierte. Diese Demoralisierung war Voraussetzung dafür, dass am 2. Mai die Gewerkschaftshäuser bis auf wenige Ausnahmen widerstandslos besetzt werden konnten. Für viele, die selbst Nationalsozialisten waren, mit den Nazis sympathisiert haben oder auch schlicht rechts-konservativ bis vielfach nationalliberal gewesen sind, war es dagegen ein Tag des ostentativen Sieges. Für die war es positiv, dass die „linken Chaoten“ nicht mehr existiert haben. Das setzte schon zuvor ein. Am 1. Mai selbst wurde dies auf dem Tempelhofer Feld aber noch einmal ganz massiv demonstriert, indem die Arbeiter beispielsweise in Marschkolonnen, als Gegenbild zu den scheinbar chaotischen 1. Mai-Demonstrationen der Linken zuvor, laufen mussten. Das war deswegen wichtig, weil das Bürgertum und Kleinbürgertum – das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen – ja auf extremer Distanz zum Proletariat und zur Linken gewesen sind. Indem man die Arbeiter sozusagen in Kolonnen formatiert hat, hat man dem Bürgertum den Schrecken vor dem Proletariat genommen. Gleichzeitig wurde mit dem Ideologem der Volksgemeinschaft auch so etwas wie eine neue positive Utopie aufgebaut. Und zwar eine, die so verwaschen war, dass sich zumindest konservative und rechtsliberale Kreise problemlos damit identifizieren konnten. Dahinter stand diffus das Bewusstsein: „Wir Deutschen sind seit der Niederlage im Ersten Weltkrieg massiv gedemütigt worden – und jetzt gibt es den neuen Aufschwung“. Der Wunsch, Deutschland wieder zur Großmacht zu machen, ist in breiten Schichten des deutschen Volkes ganz stark gewesen. Das reichte nicht nur bis in die Angestellten, sondern auch in die Arbeiterschaft rein. Ich glaube, dass gerade diese nationale Identifikation es den Nazis möglich machte, auch in der eigentlichen Arbeiterschaft eine zumindest partiell positive Resonanz zu finden.

Trotzdem erscheint die reibungslose Übernahme der Gewerkschaften in den Tagen danach und die Eingliederung der Arbeiter ins NS-System insgesamt sehr überraschend. Inwiefern gab es neben den fundamentalen Unterschieden nicht doch auch strukturelle Gemeinsamkeiten, die den Zusammenbruch der Arbeiterbewegung zumindest erleichterten?

RH: Das ist ein zentraler Aspekt, der in der Forschung gering geschätzt oder ignoriert wird – gerade auch in der sozialdemokratisch- oder auch kommunistisch-affirmativen Forschung. Es gibt ein schönes Zitat von einem unorganisierten linkssozialistischen Exilanten, der bereits Ende 1932 ins französische Exil gegangen war und dort festgestellt hat, dass die sozialistische Bewegung in Deutschland sich zwar „gegen die deutsche Kaserne“ organisiert habe, aber „ihre eigene Organisation nicht frei vom Geist der Kaserne“ gewesen sei. Das halte ich für einen sehr wichtigen Punkt. Fast durchgängig hatten es die großen Organisationen der Arbeiterbewegung nicht auf die Emanzipation des Individuums angelegt. Sie haben als politisches Ziel zwar abstrakte Statements vorgegeben – wie Sozialismus, Kommunismus oder bei der SPD auch Wirtschaftsdemokratie –, die als Konzepte aber diffus blieben. Dies könnte man zu der Behauptung zuspitzen, dass im Grunde genommen die Inhalte nur ausgetauscht werden mussten – während autoritäre Strukturen als dominierende Form blieben. Allerdings wäre das verkürzt. Denn entscheidend blieb neben diesem autoritären Charakter – sowohl der Individuen als auch der Organisationen – der bereits genannte Terror, die dadurch bedingte enorme Einschüchterung und die Zerstörung aller kommunikativer Zusammenhänge. Das hat maßgeblich dazu beigetragen hat, warum diese in aller Welt – zu großen Teilen zu Unrecht – bewunderte, vermeintlich starke deutsche Arbeiterbewegung ziemlich sang- und klanglos zusammengebrochen ist.

Nach anfänglich fehlender Sympathie – was lässt sich über die spätere Einstellung der deutschen Arbeiter gegenüber der nationalsozialistischen Weltanschauung sagen?

RH: Dass die Identifikation stärker wurde, ist überhaupt keine Frage. Aber auch die Skepsis ist groß geblieben. Gleichzeitig ist wichtig, sich die Arbeitnehmerschaft bzw. Arbeiterschaft nicht als homogene Blöcke vorzustellen. Diese differenzierten sich nach Branchen, Betriebsgrößen, nach Qualifikation, nach Geschlecht und, was eine zentrale Differenzierungslinie ist, nach Alterskohorten bzw. Generationen. Meine These ist – allerdings gibt es nur relativ wenige Indizien, an denen man das festmachen kann –, dass ältere Arbeiter vor allem in den Industriezentren und aus Großbetrieben, die sehr stark in der klassischen Arbeiterbewegung sozialisiert wurden, sich ihre eigenen Ideale erhalten haben – was nicht ausschließt, dass sie partiell eben auch etwa fremdenfeindliche Stereotypen mit übernommen haben. Während bei den jüngeren Generationen, die kaum noch in der Arbeiterbewegung sozialisiert wurden und aufgrund der Massenarbeitslosigkeit Betriebe von innen bis 1933 selten kennenlernen konnten, eine Affirmation von NS-Ideologie überhaupt nicht ausgeschlossen werden kann.

Der Platz zerschlagener Gewerkschaften wurde wenig später durch die Deutsche Arbeitsfront eingenommen. Welche Rolle spielte die DAF für die weitere Identifikation der Arbeiterschaft mit dem Nationalsozialismus?

RH: Ich glaube, eine ganz wichtige Rolle. Die DAF hat mit ihren vielfältigen, vor allem Lockangeboten wesentlich dazu beigetragen, dass wachsende Teile der gesamten Arbeitnehmerschaft in die sogenannte Volksgemeinschaft integriert wurden und sich zu Teilen mit dem NS auch als Ideologie identifiziert haben. Was aber fast noch wichtiger ist: Die Deutsche Arbeitsfront hat mit ihren Initiativen, zum Beispiel dem Reichsberufswettkampf und dem Gesamtkomplex der sogenannten Berufserziehung, auf vielen anderen Ebenen dazu beigetragen, dass ein neuer Arbeitnehmertypus entstanden ist. Der Historiker Detlev Peukert hat bereits früh mit Blick auf den Nationalsozialismus von einem „beinahe amerikanischen Leitbild“ des leistungsbewussten Arbeiters gesprochen. Dafür, dass sich dieser herausbildete, war wesentlich die DAF verantwortlich. Wichtig ist, dass dieser neue Arbeitertypus nicht nur leistungsbewusst war, sondern individualistisch orientiert, karrierefixiert und konkurrenzbereit gewesen ist. Ich würde die These von Peukert noch zuspitzen und behaupten, dass der ab 1945 vor allem in Westdeutschland dominierende Arbeitnehmertypus im Dritten Reich erzeugt wurde. Das hat dazu geführt, dass in den ersten Jahrzehnten in der Bundesrepublik zumindest der Eindruck einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (wie der Soziologe Helmut Schelsky das formuliert hat) entstehen konnte, in der jeder individuell sein Glück suchte und sich die alten Klassenstrukturen scheinbar auflösten.

Mit Blick auf die Zeit nach 1945: Selbst wenn der Nationalsozialismus als System beseitigt wurde, was bedeutete dies für die Organisationen der Arbeiterbewegung, konnten diese an die Zeit vor 1933 anknüpfen?

RH: Die konnten schon deswegen nicht an die Zeit vor 1933 anknüpfen, weil die DAF die proletarischsozialistischen Milieus nachhaltig zerstört hat. Die Organisationen wurden nach 1945 zwar wiedergegründet – allerdings auf spezifische Art und Weise. Die Alliierten haben Initiativen präferiert, die von oben ausgingen. Eher basisdemokratische Gewerkschaften, die sich von unten gebildet haben, waren nicht wohl gelitten. Auch wenn man sich das bis 1933 vielfältige gewerkschaftliche Genossenschaftswesen anschaut, haben die Gewerkschaften nach 1945 auch auf diesem Feld im Grunde dort angeknüpft, wo die DAF zuvor aufgehört hat. Sie haben sich auf große ökonomische Einheiten orientiert und sind damit spätestens beim Neue Heimat- bzw. dem Coop-Crash gescheitert. Eine innere, auf Produktions- und Konsumentendemokratie zielende Restrukturierung der Genossenschaften hat es zwar gegeben, aber sie wurde nicht forciert. Zusätzlich kam nach 1945 noch eine genossenschaftsfeindliche Gesetzgebung dazu, die ebenfalls nahtlos an das „Dritte Reich“ anknüpfte.

Was lässt sich abschließend über den 1. Mai retrospektiv sagen, welches Ende hat dieser nach 1945 genommen?

RH: Na ja, der hat das bekannte Ende genommen. Er existiert zwar immer noch, aber im Grunde genommen eigentlich schon seit vielen Jahren mit relativ folgenlosen Fensterreden prominenter DGB-Funktionäre. Zum Teil hat er inzwischen mehr Volksfestcharakter angenommen als dass er noch als Hebel genutzt wird, um massiv und kämpferisch eigene Positionen zu artikulieren.

Zur Person: Rüdiger Hachtmann ist Professor am Institut für Geschichte und Kunstgeschichte der Technischen Universität Berlin und zudem seit 2007 Leiter des Projekts „Das fordistische Jahrhundert“ am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

Das Interview führten David Hönscher und Mirko Winkelmann.

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