Stadtspaziergang Tempelhofer Feld: 7. Kirchliches Zwangsarbeiterlager in Neukölln

„Dieser Krieg trennte die Gatten von den Gattinnen, die Söhne von den Müttern. Unter ihnen bin auch ich, ein 17-jähriger Junge, der zur Zwangsarbeit ins fremde deutsche Land, in die Mitte Europas, nach Berlin verschleppt wurde, wo auf mich Gräberarbeit wartete. (…) Es gibt keine Hoffnung auf Rückkehr“.1 Das sind die ersten Zeilen aus dem Tagebuch von Wasyl Kudrenko, ein Insasse im kirchlichen Zwangsarbeiterlager Neukölln.

Das Neuköllner Zwangsarbeiterlager, das hier an der Gedenktafel stand, wurde von der Evangelischen Kirche von 1942 bis 1945 betrieben. Die meisten noch lebenden ehemaligen Insassen des Friedhofslagers wussten nicht, dass es zur Kirche gehörte.

Das Lager wurde mit Bedacht in großer Entfernung zum Haupteingang des Friedhofs an der Hermannstraße errichtet. Auf diese Weise sollten „das Ansehen des Friedhofs und seine Würde nicht beeinträchtigt werden“.2 Die Baracken standen in zwei parallel verlaufenden Reihen. Das ganze Lager war mit einem Drahtzaun abgesichert. Die Baracken waren von außen mit grüner Tarnfarne bemalt, damit sie gegen Luftangriffe geschützt waren und sich unauffällig in das Friedhofsgelände einpassten.

Der gefälschte Ausweis von Gavil P. Tkalisch. Er wurde am 7. April 1923 in der ukrainischen Kleinstadt Tschernobai geboren und war seit Oktober 1942 Insasse des kirchlichen Zwangsarbeiterlagers in Neukölln. Im Jahr 1943 konnte er aus dem Lager fliehen und gelangte durch die Hilfe eines legal in Berlin lebenden Russen an gefälschte Papiere. Vermutlich berechtigten ihn diese, legal in Deutschland zu arbeiten.Quelle: Familienarchiv von W. G. Tkalitsch

Der gefälschte Ausweis von Gavril P. Tkalisch. Er wurde am 7. April 1923 in der ukrainischen Kleinstadt Tschernobai geboren und war seit Oktober 1942 Insasse des kirchlichen Zwangsarbeiterlagers in Neukölln. Im Jahr 1943 konnte er aus dem Lager fliehen und gelangte durch die Hilfe eines legal in Berlin lebenden Russen an gefälschte Papiere. Vermutlich berechtigten ihn diese, legal in Deutschland zu arbeiten.
Quelle: Familienarchiv von W. G. Tkalitsch

Ungefähr 100 Ostarbeiter*innen waren hier untergebracht. Die meisten waren Ukrainer und einige wenige Russen. Jeder Person standen ungefähr 3,5 Quadratmeter zur Verfügung. Im Vergleich dazu hatte ein deutscher Bauarbeiter das Anrecht auf 10 Quadratmeter „Wohnfläche“. Jeden Tag mussten die Insassen des Lagers auf verschiedene Friedhöfe der Stadt fahren, um Gräber auszuheben. Ihr Lohn betrug nach Abzug der Kosten für Unterkunft und Verpflegung 20 bis 40 Reichsmark. Die deutschen Friedhofsarbeiter bekamen im Monat das Drei- bis Vierfache an Lohn. Die Zwangsarbeiter mussten den Aufnäher „Ost“ auf der rechten Brustseite tragen.

Das Friedhofslager wurde mehrmals bei Luftangriffen getroffen. Im April 1944 brannte die Mannschaftsbaracke vollständig nieder. Zwar wurde im Herbst eine Ersatzbaracke errichtet, im darauffolgenden Frühjahr wurde das Lager jedoch komplett zerstört. In den letzen Kriegswochen wurde es pausenlos bombardiert, die Lebensmittelversorgung wurde unterbrochen. Die Insassen mussten sich während der Bombardierungen des Lagers in U-Bahnhöfen, Kellern und in der Abwasserkanalisation verstecken. Die Befreiung des Neuköllner Zwangsarbeiterlagers erfolgte im April 1945 durch die Rote Armee.

Im Jahr 2000, 55 Jahre nach Kriegsende, begann die deutsche Evangelische Kirche mit der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte. 39 evangelische und 3 christliche Gemeinden hatten sich damals an dem kirchlichen Zwangsarbeiterlager beteiligt. Angestoßen durch öffentlich-politische Debatten um die Entschädigung von Zwangsarbeitern*innen in den 1990er Jahren bekannte sich die Evangelische Kirche dazu, an diesem Unrecht beteiligt gewesen zu sein.

Wenn Sie dem Weg folgen, die Hermannstraße überqueren und in den anderen Teil des St. Thomas Friedhofs eintreten (Hermannstr. 179/185), finden Sie einen Pavillon mit einer Dauerausstellung (P). Im Mittelpunkt stehen die Erzählungen von zehn ehemaligen kirchlichen Zwangsarbeitern aus Russland und der Ukraine. Der Pavillon ist mittwochs und samstags von 15 bis 18 Uhr geöffnet (April bis Oktober).

Ekaterina Akopyan

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Anmerkungen

  1. Wolfgang G. Krogel (Hg.), Bist du Bandit? Das Tagebuch des Zwangsarbeiters Wasyl Timofejewitsch Kudrenko, Berlin 2005.  (hoch)
  2. Heidemarie Oehm, Technokratische Effizienz. Organisation, Errichtung, Ausstattung und Betrieb des Neuköllner Friedhofslagers, in Erich Schuppan (Hg.), Sklave in euren Händen. Zwangsarbeit in Kirche und Diakonie Berlin-Brandenburg, Berlin 2003, S. 95-152, hier S. 104.  (hoch)